WASHINGTON, D.C. – Tausende Christen leben als Binnenflüchtlinge im Irak von humanitärer Hilfe. Was für eine Zukunft haben sie, wenn der Islamische Staat erst einmal beseitigt worden ist? Das ist die Frage, die besorgte Christen, Menschenrechtler und Aktivisten beschäftigt; auch in Washington und an den Vereinten Nationen.
„Wir sollten uns nun auf die Konsequenzen einer Befreiung der vom IS kontrollierten Gebiete vorbereiten, inklusive Mossul und der Nineveh-Ebene, sowie Regionen in Syrien“, sagte Carl Anderson, Oberster Ritter der Knights of Columbus vor einer Anhörung zum Thema „Die Anerkennung des Völkermords des IS: Was nun?“ im Regierungsviertel Washingtons.
Nach der Terror-Herrschaft des IS müsse „Pluralismus, Selbstverwaltung und Stabilität“ ermöglicht werden, betonte Dr. Tom Farr, Leiter des Projekts für Religionsfreiheit an der Georgetown University bereits Ende April in einer Rede vor dem Ständigen Beobachter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen.
Nach er weiter Teile des Iraks und Syriens im Jahr 2014 eroberte hatte, musste der Islamische Staat im vergangenen März ein Fünftel seines Territoriums einbüßen. Doch die Feldzüge der radikalen Muslime verursachten eine gewaltige Flüchtlingskrise. Hunderttausende Christen flohen vor den Islamisten aus Mossul und der Nineveh-Ebene ins irakische Kurdistan. Dort leben seit bald zwei Jahren die Menschen in Flüchtlingslagern in der Stadt Erbil. Sie überleben dank der Hilfe christlicher Organisationen wie Kirche in Not und anderer Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Ihre Lage bleibt jedoch prekär.
Die kurzfristige Nothilfe kann nicht eine langfristige Strategie ersetzen, eine stabile, wohlhabende und pluralistische Gesellschaft zu schaffen, nachdem der Islamische Staat besiegt worden ist.
Viele vertriebene Christen haben die Region bereits verlassen; manche kamen nach Deutschland, wo sie Gefahr laufen, von der Mehrheit der muslimischen Migranten und ebenfalls islamischen Sicherheitspersonal bedroht und bedrängt zu werden. In Erbil harren weiterhin 70.000 Binnenflüchtlinge, in Schiffscontainern, Wohnwägen und anderen Notunterkünften.
Es muss konkrete Pläne geben, Christen, die in der Region bleiben wollen, sich wieder in ihrer Heimat ansiedeln zu lassen. „Die Menschen sollten entscheiden können, welche Zukunft sie für sich wählen“, sagte Anderson.
„Es wurde viel darüber diskutiert, wie mit den Opfern des IS-Völkermords umzugehen sei“, fuhr Anderson fort. „Einige haben dafür plädiert, die Menschen sicher zurück in die Nineveh-Ebene zu bringen. Andere finden, sie sollten in Kurdistan bleiben können. Und wiederum andere haben vorgeschlagen, sie sollten auswandern. Aber das sind nicht notwendigerweise einander ausschließende, konkurrierende Vorschläge.“
Eine Ausnahme ist Mossul: Die Christen dieser Stadt können nicht heimkehren. Selbst wenn der Islamische Staat von dort vertrieben werden würde, was wahrscheinlich eine gewaltige Kraftanstrengung wäre, ist das Vertrauen der Christen in ihre muslimischen Nachbarn zerstört; möglicherweise für immer. Die bis dahin moderaten Muslime hatten ihre christlichen Nachbarn den Dschihadisten ausgeliefert, als diese im Jahr 2014 die Stadt einnahmen.
Selbst wenn also ihre Häuser noch intakt sein sollten, können Christen nicht unbedingt dorthin zurück und neben ihren ehemaligen Nachbarn leben. Eine andere Lösung muss gefunden werden.
Christen und Jesiden am Kampf beteiligen
Am 19. Mai verabschiedeten die US-Abgeordneten ein Gesetz, an dem zwei Zusatzartikel des Republikaners Jeff Fortenberry aus Nebraska angehängt waren.
Fortenberrys Artikel schaffen eine Blaupause für die Zukunft der Region. „Erstens gehört nun zur US-Strategie im Irak, Sicherheitszonen zu schaffen, in denen Völkermord-Opfer sicher in ihre Heimat zurückkehren können“, sagte er. „Und zweitens ermächtigt eine neue Vorschrift Minderheitengruppen wie Christen und Jesiden, sich mit ihren Verbänden in der integrierten Militärkampagne gegen den IS einzugliedern.“
„Christen, Jesiden und andere sollten weiterhin ein wesentlicher Teil der einst so reichen ethnischen und religiösen Vielfalt des Nahen Ostens sein“, sagte der Abgeordnete.
Doch die Zahl der christlichen Gemeinden im Nordirak ist seit der US-geführten Eroberung des Landes im Jahr 2003 stetig gesunken. Wenn nicht bald Flüchtlinge in der Region neu angesiedelt werden, sondern weiterhin in temporären Unterkünften und Flüchtlingslagern ausharren, dann ist es wahrscheinlich, dass sie das Land für immer verlassen und diese Gemeinden für immer verschwinden.
Diese wäre eine Katastrophe für die Zukunft des Nahen Ostens, betonte Dr. Farr gegenüber den Vereinten Nationen; es würde die religiöse Vielfalt in der Region genauso zerstören wie „jede Chance auf Stabilität, Selbst-Verwaltung und wirtschaftliche Entwicklung.“
Einige Experten, darunter Farr, haben eine „autonome, multi-religiöse, multi-ethnische ‘Sicherheitszone’“ vorgeschlagen, die ermöglichen soll, dass Christen in ihrer angestammten Heimat leben können.
Vorbild hier wären eventuell vergleichbare UN-Zonen der Vergangenheit, in denen internationale Schutztruppen die Bevölkerung vor dem Genozid und weiteren Angriffen durch den IS oder andere muslimische Milizen schützen müssten.
Selbst Farr räumt ein: Vieles müsste geschehen, bevor dieser Plan realistisch und realisierbar ist. Neben militärischem Schutz bräuchte eine solche Zone „eine interne Polizei, wirtschaftliche Anreize, gerechte und effektive Regierung, Behandlung für Traumata und psychologische Leiden, sowie Versöhnungsmechanismen“.
Außerdem müssten benachbarte Länder einer solchen Zone zustimmen, ebenso wie das irakische Kurdistan und die irakische Zentralregierung, so Farr.
Nach einer bestimmten Zeit könnte aus einer „Sicherheitszone“ hoffentlich eine semi-autonome Provinz werden, so Johnny Oram, Geschäftsführer der Chaldäisch-Assyrischen Wirtschaftsallianz in seiner schriftlichen Aussage zur Anhörung.
Die Region müsste sich selber regieren und schützen können müssen, betonte Oram. Nur so könne das Vertrauen der verfolgten Minderheiten wiederhergestellt werden.
Eine Zukunft für Christen
Eine völlig andere Vision für die Christen der Region hat Stephen Hollingshead, von der Gruppe In Defense of Christians. Die IDG ist eine Organisation zur Verteidigung der verfolgten Christen. „Diese UN-’Sicherheitszonen’ haben eine sehr durchwachsene Erfolgsbilanz“, sagte er. „Sie sind generell nicht sicher, und mit einer Ausnahme sind sie nie wirtschaftlich autark.“
Hollingshead leitet das Haven Project der IDG. Er plädiert nicht für eine vorübergehende Sicherheitszone, sondern gleich ein eigenständiges Territorium für Christen und andere Minderheiten, sei es ethnische oder religiöse – Dorf für Dorf.
Christen könnten hier nicht nur überleben, sondern blühen und sich selbst versorgen, schützen und um sich selbst genauso kümmern wie Handelspartner in der Region, so Hollingshead.
Die Nineveh-Ebene liegt zwischen Mossul im Westen und dem irakischen Kurdistan im Norden und Osten. Sie wäre für Hollingshead der geeignete Ort: Christen, die dort seit vielen Jahrhunderten leben, könnten die fruchtbare Ebene weiter landwirtschaftlich nutzen, sich selbst verwalten und vor aggressiven schützen.
Auch dieser Plan hat viele Variablen, räumt Hollingshead ein. Das sind einmal die kurdischen Peschmerga. Sie würden die Ebene einfach annektieren, sobald der IS besiegt wurde, wenn man sie ließe, so Hollingshead. Deshalb müssten Christen und Jesiden auch mit eigenen Kampfverbänden an der Bezwingung des IS beteiligt werden. Nur so wären sie gleichberechtigte Partner bei Friedensverhandlungen.
„Ich glaube, dass die Kurden bereit wären, eine Vereinbarung zu treffen – und ich bitte die USA, eine solche Verhandlung zu führen“, fuhr er fort. Hollingshead ist überzeugt: Die Kurden wären dazu bereit, ihren Anspruch auf die Ebene gegen eine Anerkennung ihres eigenen Rechts auf Selbstbestimmung durch die USA einzutauschen.
Eine solche Lösung ist alles andere als gewährleistet: Christen der Region haben nicht vergessen, dass ich die Kurden am Vökermord gegen die assyrischen Christen vor einem Jahrhundert beteiligten. Und sie sind bis heute argwöhnisch den Peschmerga gegenüber, betont Naomi Kikoler, stellvertretende Direktorin des Simon Skjodt Zentrums für die Prävention von Völkermord am US Holocaust Memorial Museum.
„Religiöse Minderheiten haben weiterhin wenig Vertrauen in die irakischen Sicherheitskräfte und die kurdischen Peschmerga. Sie werfen ihnen vor, sie im Stich gelassen zu haben, als der IS die Niniveh-Ebene angriff“, sagte Kikoler in einem schriftlichen Statement, dass am 26. Mai vor dem House Foreign Affairs Committee verlesen wurde.
„Viele haben weiterhin den Eindruck, als Bauern im politischen Schachspiel zwischen der irakischen Regierung und der kurdischen Regionalregierung um die umstrittenen Regionen verwendet zu werden“. Mit der Folge, dass sich religiöse Minderheiten darüber Sorgen machen, von wem und wie ihre Heimat regiert werde, sollten sie je zurückkehren.
Doch der Plan, darauf beharrt Hollingshead, ist möglicherweise die beste Chance für Christen und Jesiden auf eine langfristig sichere und stabile Heimat in der Region. „Man schiesst nicht auf Leute, mit denen man Handel treibt“, so Hollingshead. Wenn zwischen assyrischen Christen, Kurden und anderen gute Wirtschaftsbeziehungen gegenseitigen Wohlstand sicherten, dann führe dies zu Stabilität und Sicherheit.
So wie der Sindschar-Berg vom Islamischen Staat befreit wurde: So könnten, Schritt für Schritt, auch die Dörfer der Christen und Jesiden befreit werden, meint Hollingshead; durch kurdische, christliche und jesidische Kampftruppen, mit Unterstützung aus der Luft durch US-Streitkräfte. Mit Startkapital ausländischer Investoren könnten neue Betriebe und dadurch Arbeitsplätze entstehen. Ob und wie ein solcher Plan umsetzbar ist und wirklich umgesetzt werden könnte, ist freilich noch unklar – so oder so müßten Experten der internationalen Gemeinschaft, und vor allem der USA, die Region weiterhin sehr genau beobachten. (CNA Deutsch)